Jo Vulner (Pseudonym), Infowahn,

Eine Abrechnung mit dem Multimedienjahrzehnt

Textauszüge und Medienstimmen

AUS DEM KAPITEL

„BASTELN UND EVOLUTION”

Die Welt ist komplex. Das wissen „wir” erst, seit Erkenntnistheorie einen Begriff von Komplexität definiert hat. Vorher war die Welt nur widerständig, mühselig, also irgendwie kompliziert. Auch dies ist die Welt nicht von sich aus: der Mensch ist verantwortlich. Sein spezifischer Weltumgang, seit mythisch gebundenes In-der-Welt-Sein durch die Arbeit an der Welt abgelöst wurde, hat diese erst kompliziert gemacht. Kompliziertheit ist das Abfallprodukt, das beim Umgang des Menschen mit der ersten Evolution unvermeidlich ist. Jeder Blick des Menschen auf die Welt macht diese komplizierter. Wenn Menschen etwas in der Welt nicht verstehen, fummeln sie solange an der Wirklichkeit herum (naives Experiment), oder sie bauen solange komplizierte Modelle (theoretisches Experiment), bis sie es zu verstanden haben glauben. Deutungen und Erklärungen lösen aber Probleme nicht, sondern entfalten ein Terrain, auf dem neue Probleme neue Lösungen herausfordern. Das nennt man landläufig Erkenntnisgewinn oder Wissenswachstum. Wissenschaft, die weiß, dass die Beziehungen zwischen Mensch und Welt komplexer zweiter Natur sind, will Kompliziertheit aus ökonomischen und ästhetischen Gründen eher vermeiden. Wissenschaft verfolgt deshalb ein Ideal der vereinfachenden Eleganz. Man solle etwas so einfach wie möglich machen, aber nicht einfacher, hat Albert Einstein mal gesagt. Gelungene Theorien sind deshalb manchmal von bestechender Eleganz und Reinheit. Ihre Verkörperungen in ›Wirklichkeit‹ hingegen sind eine äußerst schmuddelige Angelegenheit. Dreck, Pannen & Probleme bei der Umsetzung von Theorien machen die Wirklichkeit wiederum ziemlich kompliziert, woran Wissenschaft in der nächsten Runde wieder ihr Theorie- und Praxistalent erweisen darf.

(…)

Sollten wir in der Zukunft mit unseren Körpern multioptional umgehen können, gilt wiederum das Gebot zur Förderung der Reichhaltigkeit. Körperliche wie virtuelle Welten sind Teil einer umfassenden Evolution, deren Stränge gleichberechtigt sind. Ob die Evolutionsstränge des Virtuellen und des Realen unter dem Gesetz einer umfassenden Evolution stehen, wie Arten unter dem Gesetz der natürlichen Evolution, ist für uns heute noch nicht zu erkennen. Uns ist also nicht gestattet, einen von uns geschaffenen Evolutionsstrang (den virtuell-informationellen) über einen anderen (den herkömmlich natürlichen) dominieren zu lassen.

 

 

 

 

 

AUS DEM KAPITEL

„BILDER”

Bilder gelten heute als faszinierend, wenn sie Erlebnisansprüchen gerecht werden, oder böser formuliert: weil sie sprachlos und in Folge dumm machen sollen. Bilder aber machen nicht per se dumm. Vor der Alphabetisierung unserer Kultur diente das Bild der anschauenden, anschaulichen, also theoretischen (theoria = Anschauung) Weltvergewisserung. Da die Bilder nicht zerredet wurden, hatten sie etwas zu sagen, das nicht eindeutig, aber deutlich war. Als die Texte die Welt zu deuten begannen und einen bis heute gültigen Anspruch auf Eindeutigkeit behaupteten, aber nicht durchsetzten, weil zu viele Texte als bedeutsame auftraten, wurde das Bild vieldeutig, offen, interpretationsbedürftig. Heute gibt es ein Spektrum von Bildern, das genauso breit gefächert zwischen kitschiger Unterforderung und elitärer, hermetisierender Überforderung gespannt ist, wie dies bei Texten der Fall ist. Der Umgang mit Bildern kann eine höchst anspruchsvolle Tätigkeit sein. Der Umgang von 90 Prozent der Menschen mit den gleichzeitig maximal verwirrenden und maximal vereinfachenden Bildern der medialen Environments ist das Problem. Menschen sehnen sich nach geschlossenen Weltbildern (also dem Paradies). Und sie erhalten auf dem Markt (perfekte Simulation des Paradieses) geschlossene Texte (Kitsch & Inzest) und geschlossene Bilder (Kitsch & Inzest). Kitsch-Märkte sind Ersatzparadiese. Was auf ihnen gehandelt wird, ist Nebensache. Nippes-Bilder sind deshalb per se nicht schlimmer als Nippes-Texte oder Nippes-Figürchen.

 

 

 

 

 

AUS DEM KAPITEL

„BILDUNG”

Die Bildungskrise ist etwas Wunderbares. Sie dient der Arbeitsplatzerhaltung Zigtausender von Menschen in Institutionen und Medien. Sie darf nicht verschwinden. Die Bildungskrise ist eine Sinn-Maschine: Sie generiert Probleme, die nicht gelöst werden dürfen, weil es sonst zum Sinnkrisenstillstand, also Sinnverlust käme. (Nur Sinnkrisen garantieren die Anwesenheit von Sinn. Sinn ist Grenzphänomen. Im Zentrum von Sinn lauert die absolute Leere.) Deshalb wird sie auch nicht verschwinden. Die Bildungskrise ist heute also 1. eine universale, 2. eine dauerhafte. 3. Sie ist durch die Arbeitsplatzerhaltungsschreiberei von professionellen Bildungsapparateinsitzern eine sich selbst perpetuierende (das Wörtchen „Autopoiesis” ist mir zur Charakterisierung dieses Lamentos zu schade). Ausgemacht ist als Krisenbasis quer durch fast alle Lager, dass Bildung im Niedergang sei, und dies seit schon so langer Zeit, dass der langsame Absturz wohl aus allerhöchsten Höhen paradiesischer Bildungszeiten vonstatten gegangen sein muss.

(...)

So lange Ästhetik mit Kosmetik, Logik mit Denkspielen, Erkenntnistheorie mit Spinnerei und Praxis mit Macherwahn verwechselt wird, findet Bildung nicht statt. Bildung arbeitet gegen Arbeitsteilung, innere wie äußere, an. Bildung ist somit a priori in ihrer Basis anachronistisch und gleichzeitig in ihren Selbstbewegungen unaufholbar vorläufig. Und ihr Überleben ist von musealen Strukturen abhängig. Da viele Menschen heute ins Museum gehen, könnte jetzt noch eine allerletzte voluntaristisch-optimistische Sprachschleife geschlungen werden. Ich erspare sie mir.

 

 

 

 

 

AUS DEM KAPITEL

„DEMOKRATISIERUNG”

Trifft ein kluges System ein dummes, und tauschen die beiden Systeme Informationen aus, kann das dumme wenig mit den Informationen des klugen anfangen. Das kluge System aber wird auch die wenigen nützlichen Informationen des dummen Systems so verwerten, dass seine eigenen Fähigkeiten, mit der systemischen Umwelt angemessen zu agieren, verbessert werden. Das kluge System wird klüger.

Wenden wir diesen Mechanismus auf menschliche Gesellschaft an, wirft das ein böses Licht auf all den Glauben an die Selbstaufklärung der Gesellschaft. Werden »wir« klüger, aufgeklärter, selbstbewusster, weil ununterbrochen kluge, aufklärende Informationen in unsere medialen Orbits geschossen werden?

Das nicht mal Paradoxe, sondern nur ziemlich Desillusionierende ist doch der kaum zu leugnende Zustand, das alles bessere Wissen, alle Aufgeklärtheiten, die die unterschiedlichen Subsysteme dieser Gesellschaft produzieren und medial/kommunikativ in Umlauf bringen, nicht dazu führen, dass diese Gesellschaft insgesamt aufgeklärter, vernünftiger wird.

(...)

Die Theorie repräsentativer Demokratie traut dem Volk nicht. Daran laboriert Demokratie bis heute: Wer gewählt werden will, muss denen glaubwürdig erscheinen, denen er nicht über den Weg traut: seinen Wählern. Die politische Praxis hat daher Strategien entwickelt, mit unberechenbaren Meinungsmassen Macht erhaltend umzugehen.

 

 

 

 

 

AUS DEM KAPITEL

„DUMMHEIT”

Eine breit akzeptierte Definition von sozialer Intelligenz sagt: Menschen sind dann intelligent, wenn sie sich in maximal unterschiedlichen Situationen hoher Komplexität schnell orientieren, Ziele entwickeln und in angemessene Handlungen umsetzen können. Maximale Unterschiede treten allerdings nur in heißen Gesellschaften auf. Der sozial intelligente Mensch ist in unserer Gesellschaft also notwendig der mobile, auf schnelle Tempo- und Richtungswechsel eingestellte Mensch. Man wird also darauf achten müssen, dass intelligentes Reagieren auf Anforderungen nicht zur Apologetik beliebiger Anforderungen führt. (Die angemessene Überlebensstrategie eines Flüchtlings, der einem Bürgerkrieg entkommen will, kann nicht den Bürgerkrieg als spannende Herausforderung oder Trainingscamp legitimieren. Sie meinen, dass sei eh absurd? Nun, viele krankmachende, auf längere Sicht vielleicht tödliche Herausforderungen unseres Alltags werden genau so legitimiert.)

(...)

Jemand, der ernsthaft an die Ent-Dummung der Menschen herangehen will, sollte sich folgende Fragen stellen:

___ Will ich, dass die anderen entdummt werden? Oder gefalle ich mir nicht viel zu sehr in meiner sauber geschiedenen Selbstwahrnehmung als Un-Dummer?

___ Kann ich mit der Entdummung Geld verdienen? Oder habe ich genug Reserven? (Denn mit ernstgenommener Entdummung kann heute kaum Geld verdient werden.)

___ Halte ich Dummheit aus? Wie lange? Wie nah? In welchen personengebundenen Quantitäten? Manche Un-Dummen bekommen zum Beispiel nervöse Herzarhythmien ab einem kritischen Dummheits-Input aus der näheren Umgebung.

___ Spiele ich an einer output-intensiven Stelle mit? Denn wer zu wenig Einfluss hat, setzt bei Entdummungsprojekten seine Existenz aufs Spiel.

___ Bin ich mutig genug, das Spiel auf die Spitze zu treiben? Denn es geht nicht ums Nicht-mehr-Mitmachen (harmlos für alle Beteiligten), sondern um die Neudefinition von Regeln, um die Fingierung neuer Spielfiguren, um die Ausschaltung von Spielmachern.

___ Bin ich virtuos im Umgang mit unterschiedlichen Medien und öffentlichen Situationen? Habe ich „Performance”, Charisma, Charme, Verführungskraft, Arroganz genug, um Dumm-Machern böse mitzuspielen, und genug Empfindsamkeit, die rechtzeitig umschalten hilft?

 

 

 

 

 

 

AUS DEM KAPITEL

„ELITEN“

Eliten waren einst Vorbilder. Eliten waren oben. Und wer unten war (aber auch nicht zu weit unten), wollte nach oben. Heute definieren sich Eliten nurmehr über Differenzierungen zu anderen Eliten. Massen schauen nicht strebend nach oben zu irgendwelchen Happy Few. „Da oben” mag einer mehr Geld, Macht, Bildung, Prestige haben. Aber nur die Allerdümmsten sind noch nicht von der diffusen Skepsis infiltriert, die immer schon weiß, dass „oben sein” längst nicht mehr erstrebenswertes Leben in Reinkultur bedeutet. Umgekehrt gibt es für Eliten nichts mehr vorzuleben, weil das Nachleben immer schon zu spät kommen würde. Bedeutsamer ist, dass ein uralter Elitenbluff wirkungslos geworden ist: Was Eliten tun, hat keinen Vorbildcharakter mehr, weil kein Mensch mehr an die Verallgemeinerungsfähigkeit elitären Verhaltens glaubt. Als es noch moralische Eliten gab, waren Figuren wie Mutter Teresa und aufopferungswütige Kriegshelden Vorbilder. Heute sind die medialen Projektionen solcher Figuren bewegliche Teile von Showkulissen. Eliten sind isolierter denn je. Und Massen verhalten sich zu Eliten-Enklaven distanzierter denn je.

BUCH-INFO

Das Buch enstand als eine Sammlung von medienkritischen Essays.

Der Autor nutzte das Pseudonym Jo Vulner.

Es erschien 2000 beim Springer-Verlag in einer von Bazon Brock herausgegebenen Buchreihe.

MEDIENSTIMMEN

 

Badische Zeitung

Marshall McLuhan veröffentlichte 1964 mit „Understanding Media. The Extensions of Man” eine unkonventionelle, aufsehenerregende Ideen- und Fragmentesammlung zur Medien- und Gesellschaftstheorie. Und so etwas hat man mit Vulners „info-wahn” wieder vor sich – im besten Sinne. Ein höchst spannendes, intelligentes, anregendes und gerade durch die herausfordernde, provokative Kraft unbeliebter Ideen für jeden, dessen Verstand nicht bloß die eigenen Konstrukte verträgt sehr zu empfehlen.

Für den einen argumentative Erweiterung, für den Anderen hilfreiches Analyse- und Reibungsmaterial des weltanschaulichen Gegners, es ist immer Beides drin.

 

 

Süddeutsche Zeitung / Perlentaucher

Rolf-Bernhard Essig hat dieses Buch offenbar mit einigem Vergnügen gelesen, zumal Vulner sowohl mit den glühenden Anhängern der Multimedia-Welt als auch mit deren Verächtern ins Gericht geht – und das auf eine gleichermaßen anregende, unterhaltsame wie aber auch kompetente Weise. Dabei sei sich der Autor allerdings durchaus bewusst, dass er letztlich mit seinem Buch kaum diejenigen erreichen wird, die sich ohnehin nicht mit dieser Art Medien beschäftigen. Gut scheint dem Rezensenten zu gefallen, dass Vulner auch „historische Rückblicke auf Konzepte wie Elite, Bildung, Demokratie, Kunst einschließt", und deutlich aufzeigt, dass die technischen Möglichkeiten keineswegs mit der „Qualität der Vermittlung” verwechselt werden dürfen - wie es so häufig der Fall ist. Essig gefällt die engagierte Art Vulners, die nicht frei sei von Selbstironie und Sarkasmus und äußert die Ansicht, dass dieser Band durchaus zum „Mit- und Gegendenken” anregt. Lediglich die flapsige Sprache geht dem Rezensenten bisweilen auf die Nerven, und überhaupt macht er einige Fehler aus, die ein Lektorat seiner Ansicht nach hätte beseitigen müssen. Dennoch verdient dieses Buch, wie er findet, das „teuerste Gut der Jetztzeit”: Aufmerksamkeit.

 

 

Frank Hartmann, Medientheoretiker, in: heise.de

Gleich vorab ein Bekenntnis: selten habe ich ein gewitzteres und gleichzeitig ironischeres Buch gelesen. Schon im Vorwort legt Vulner die Karten auf den Tisch. Man sollte bei der Lektüre, meint er, einen vielleicht aufsteigenden leichten Hass gegenüber dem Autor bloß nicht unterdrücken. Dass er selbst vom Gros seiner potenziellen Leserschaft nicht viel zu halten scheint, wird ziemlich deutlich gemacht. Aber es geht dennoch nicht um eine Art gehobener Publikumsbeschimpfung, das Problem liegt vielmehr in der Sache selbst. Da droht auf der einen Seite der performative Selbstwiderspruch, im Medium Buch den Mediendiskurs zu thematisieren und einer ausgesprochen dynamischen Praxis hinterherzuhinken. Auf der anderen Seite läßt einem die fortgeschrittene Diskurslage heutzutage angesichts des Dilemmas, bei Gefahr der Naivität apokalyptische wie integrierte Positionen nicht mehr einnehmen zu können, nur noch die Option einer Flucht nach vorn.

(...)

Vulner sagt, er richte sich nicht an den „professoral abgesicherten Perma-Leser, dessen Kernarbeitszeit mit systematischem Diskursfressen genützt sein kann”. Gleichzeitig zeigt er selbst eine enorme Belesenheit, ist auf dem neuesten Stand der Theorie, und präsentiert unaufdringlich zahlreiche Theoreme, die auf eine gut verdaute und teils schon fermentierte Fachliteratur schließen lassen. Soviel unnachsichtige Kritik eines Außenseiters bei gleichzeitiger Diskurskompetenz, da muss man sagen: Hut ab!

 

 

ÖRF-Beitrag von Bernhard Jungwirth und Reinhard Handler

Der Medienberater. Er wird von Verlegern, Marketingchefs oder Chefredakteuren gerufen, um Quoten, Reichweiten und Auflagen hochzutreiben. Solche Menschen stellen wir uns als Anzugträger vor – Joop oder Armani – gestresst und das zumindest 16 Stunden am Tag. Mit anderen Themen als jenen des täglichen Brots setzen sich solche Menschen nicht auseinander. Doch kein Klischee ohne Ausnahme. Der Medienberater, Jo Vulner ist zuerst einmal kein Anzugträger. Und zweitens beschäftigt er sich mit Gott und der Welt, zumindest liest er Bücher über Gott und die Welt. Dieser Kreuz- und Quer-Lektüre - und natürlich der Berufserfahrung - ist nun ein Buch entsprungen, Titel: „Info-Wahn“. Ein Buch, in dem der Multimedia-Diskurs des letzten Jahrzehnts entzaubert wird. Nicht, um das eigene Geschäft zu zerstören, sondern um es zielgerichtet voranzutreiben.

 

 

Amazon-Leserrezension

Eine Essaysammlung, die es in sich hat. Über das etwas störende Lay-Out muss man hinwegsehen und sich anpassen. Wenn das geschehen ist, staunt man zuerst: noch nie zuvor hat man eine derart eindeutige Kritik (durch Polemik aufgepeppt) gelesen. Jegliche Misstände werden aufgezeigt, sofern sie mit dem medialen Info-Wahn zu tun haben. Auch Norbert Bolz'ens – meiner Meinung nach zu recht – neueres Schreiben wird heftig attackiert. Flusser wird nicht nur bewundert, sondern auch einmal kritischer betarchtet. Der gesamte Medienbetrieb wird unter die Lupe genommen und viele Missstände aufgezeigt. Dieses Buch macht Spaß und gibt zu denken, worüber man vielleicht noch nicht nachgedacht hat. Doch die größte Freude ist die Befriedigung der Sehnsucht nach einem solchen Buch.

 

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